Wer ist Aurelie, wenn sie nicht mehr die Beste ist? Das packende Finale der Triathlon-Trilogie von Kiki Sieg.
„Ich hatte Tränen in den Augen“ – Leserstimme
Nach dem missglückten Saisonauftakt hat Aurelie aufgegeben. Ihre Leidenschaft für Triathlon, ihre Identität – alles scheint verloren. Sie will nur eins. Den Status-quo so schnell wie möglich wiederherstellen: Sie vorne, bewundert und schneller als alle anderen.
Doch das ist leichter gesagt als getan, wenn Aurelie gegen alte Dämonen und neue Herausforderungen kämpft und die Jagd nach ersten Plätzen niemals ein Ende zu nehmen scheint.
Leseprobe Run Away: Kapitel 1 und 2
Kapitel 1
Augen geschlossen halten. Es war das Einzige, worauf sie sich konzentrieren konnte, konzentrieren wollte. Die Matratze unter ihr fühlte sich fremd an, weich und ausgeleiert, als hätten schon viele Körper – schwerere, schwächere – vor ihr auf dieser gelegen. Das sachte aufgerichtete Kopfteil des Bettes stützte ihren Oberkörper. Sie hätte nichts lieber getan, als sich auf die Seite zu legen, die Beine anzuwinkeln und den Rücken zu krümmen, die steife Decke über ihren Kopf zu ziehen und dort, in der weißlichen Dunkelheit, vor fragenden Blicken geschützt, die Augen zu öffnen.
Doch Aurelie lag auf dem Rücken, etwas in ihrer linken Armbeuge juckte und die Mitte ihres Körpers war fest verbunden. Sie war gar nicht sicher, ob sie sich bewegen, geschweige denn aufrichten konnte.
Ein leises Klopfen durchbrach ihre Gedanken. Im nächsten Augenblick knarrte eine Tür. Rasche Schritte näherten sich. Es roch nach Desinfektionsmittel. Neben ihr wurde ein Stuhl nach hinten geschoben. Sie spürte, dass sich jemand über sie beugte.
» Sie scheint den Schlaf nötig zu haben«, sagte eine routinierte Frauenstimme, die Aurelie nicht zuordnen konnte. »Rufen Sie mich, sobald sie aufgewacht ist.«
»Mach ich, danke.« Dazu ein allzu vertrautes Räuspern.
Schritte entfernten sich, eine Tür fiel ins Schloss.
Stille.
Aurelie hielt die Augen weiterhin geschlossen und versuchte, tief und gleichmäßig zu atmen. Alles in ihr fühlte sich schwer und erschöpft an.
Lag sie im Krankenhaus? Wieso war ihr Rumpf bandagiert?
Dann kam die Erinnerung zurück. Eine heiße Welle schwappte durch ihren Körper, von ihrer Stirn, an der ein Pflaster zu kleben schien, über ihre offen daliegende Armbeuge, bis hinunter in ihre müden Beine.
Der Cross-Triathlon in Grafenau.
Mit einem Mal fiel ihr alles gleichzeitig ein: Wie sie hinter dem Toilettengebäude auf dem Boden gesessen und Bella angerufen hatte. Wie Bella ihr aus dem weit entfernten Hannover befahl, das Rennen sausen zu lassen. Wie Aurelie sie wegdrückte, aufstand und sich auf den Weg in die Wechselzone machte. Wie kraftlos sich ihre Arme anfühlten, als sie das enge Material des Neoprenanzuges über sie zog. Wie sie gleichzeitig erleichtert und entsetzt darüber war, allein in Bayern zu sein.
Das Schwimmen lief noch einigermaßen okay. Erst auf dem Rad fingen die Probleme an. Ihre Seite tat weh. Ziemlich weh. So weh, dass sie es nicht ignorieren konnte. Sie redete sich ein, dass es bloß Seitenstiche waren. Nichts Wildes. Es war ihr erster Cross-Triathlon und deswegen ungewohnt für sie, auf einem Mountainbike Gas zu geben. Man saß so elendig aufrecht, verglichen mit einem Rennrad. Auf dem engen Waldpfad konzentrierte sie sich ganz auf die Technik, die sie in den letzten Monaten erlernt hatte, und vergaß für eine Weile den Schmerz in ihrer Seite.
Dann ging die Strecke zurück Richtung Innenstadt. Auf dem geraden Asphaltabschnitt schaltete sie in ihren dicksten Gang und legte ihre ganze Kraft in die Oberschenkel. Entlang der Absperrung standen nun immer mehr Zuschauer. Klatschen und Anfeuerungsrufe untermalten ihr Keuchen. Sie atmete durch und nahm einen Schluck aus ihrer Trinkflasche. Es war nicht mehr weit bis in die Wechselzone. Dann durchzog ein höllischer Schmerz ihren Körper wie ein Messerstich und einen Moment später verlor sie erst die Kontrolle über ihr Mountainbike und dann das Bewusstsein.
Nun lag sie im Krankenhaus.
Sie blinzelte und sah sich vorsichtig um.
Auf einem beigen Stuhl mit breiter Lehne, nur wenige Zentimeter von ihr entfernt, saß ihr Vater – mit seinen weißen Haaren und der eichenbraunen Hornbrille. Das vertraute Räuspern hatte also wirklich ihm gehört. Seine Knie berührten den Rahmen des Krankenhausbettes. Er trug Jeans und eine schwarze Sweatshirt-Jacke, deren Reißverschluss er bis unters Kinn hochgezogen hatte. In den Händen hielt er ein Buch. Das Cover war verdeckt, er hatte schon weit mehr als die Hälfte gelesen.
Aurelies Blick huschte über sein Gesicht: Augenringe, unrasiert, ein erleichtertes Zucken in den Mundwinkeln. Sie hatte Mühe, ihn direkt anzusehen, geschweige denn, das Offensichtliche auszusprechen: Was machte ausgerechnet er hier? Wieso war er der Erste an ihrem Krankenbett?
Krankenbett.
Sie hasste den Ausdruck schon jetzt. Er verkörperte alles, was sie nicht sein wollte.
Vorsichtig winkelte sie ihre Arme an und versuchte, sich aufzurichten. Es gelang ihr unter Schmerzen. Ihr Vater beugte sich zu ihr und stabilisierte sie.
Er räusperte sich erneut, es klang verlegen – eine Emotion, die sie sonst nicht mit ihm verband. »Ich rufe die Schwester.«
»Noch nicht.« Aurelie rutschte mit zusammengebissenen Zähnen selbst einige Zentimeter nach oben. Ihr Vater beobachtete sie schmallippig, widersprach jedoch nicht. Aurelie musste wirklich angeschlagen sein, denn sie konnte nicht mitansehen, wie sich eine unsichtbare Mauer zwischen ihnen hochzog, wo gerade ein kleiner Durchgang sichtbar geworden war.
»Auf einer Skala von eins bis zehn«, sagte sie heiser, »wie schlimm ist es?« Immerhin konnte sie darauf bauen, dass ihr Vater nichts schönreden würde. Was ihre Mutter auf jeden Fall tun würde, wenn sie hier wäre.
»Sieben.«
Aurelie hatte mit mehr gerechnet. Es fühlte sich mindestens wie eine Zwölf an. »Also alles halb so wild.« Sie versuchte ein Lächeln.
Ihr Vater ging nicht drauf ein. Er stand auf und kippte das Fenster. »Du hast eine vergrößerte und angerissene Milz und zwei gebrochene Rippen. Hier und da noch eine Schürfwunde und –«
Er blickte auf einen Punkt hinter der Fensterscheibe, den Aurelie nicht sehen konnte. Sie wusste, was er sagen wollte, und rechnete ihm hoch an, dass er es nicht tat.
»Pfeiffersches Drüsenfieber«, sagte sie an seiner Stelle. Es brachte nichts, es länger zu verheimlichen. Sie lag im Krankenhaus. Hier arbeiteten Ärzte, die Blut abnahmen, Akten einsahen und eins und eins zusammenzählen konnten.
Sein Blick glitt kurz zu ihr, er nickte. »Wusstest Du …«
Für dieses Gespräch war es zu früh, viel zu früh. Wenn es nach Aurelie ging, würde sie es nicht heute führen, nicht morgen und auch nicht in absehbarer Zukunft, mindestens, bis sie von zu Hause ausgezogen war. Wenn Aurelie gekonnt hätte, wäre sie aufgesprungen und weggerannt. Da Rennen nicht zur Option stand, sagte sie das Erste, was ihr in den Sinn kam: »Ich muss mal.«
»Die Schwester wird dir helfen, du sollst nicht allein zum ersten Mal aufstehen.«
»Du bist hier, du kannst mir helfen.«
Ihr Vater seufzte und sah sich im Zimmer um. Aurelie fragte sich, was er suchte. Einen Nachttopf? Krücken? Den Notausgang? Sie schob die weiße Bettdecke beiseite und zwang ihre Füße Richtung Boden. Es gelang ihr unter Schmerzen, sich aufzurichten. Selbst das Atmen tat weh, wahrscheinlich wegen der gebrochenen Rippen. Sobald sie saß, wurde ihr schummrig vor den Augen. Sie wartete, bis ihr Kreislauf aufgeholt hatte.
Ihr Vater hatte gefunden, was er gesucht hatte: Aurelies Wettkampftasche, die jemand in den Schrank neben der Tür geräumt hatte. Er hielt ihr ihre alten Badelatschen hin, die sie für das Wochenende in Grafenau eingepackt hatte.
»Welchen Tag haben wir heute?«, fragte Aurelie, während sie mit ihren Zehen hineinglitt. Wenigstens ein vertrautes Gefühl.
»Sonntag.«
Die Katastrophe war also noch keine vierundzwanzig Stunden her. Es hätte Aurelie beruhigen können, doch löste nur eine erneute Panikwelle in ihr aus, die sie unterdrückte – darin war sie schließlich Meisterin.
Ihr Vater stütze sie am Oberarm, während sie sich aufrichtete, den erneuten Schwindel zurückkämpfte und einen Fuß vor den anderen schob, auch wenn ihr gesamter Körper sich mit aller Wucht dagegen auflehnte. Erst jetzt fiel ihr auf, dass ihr Zimmer ein eigenes Bad hatte. Privatpatientin, schoss ihr durch den Kopf. In dem Moment war sie dankbar für den Luxus, denn so waren es nur drei Schritte, die sie am Arm ihres Vaters humpeln musste. Er öffnete ihr die Badtür.
»Das da drinnen schaffe ich allein«, sagte Aurelie mit Blick auf die weißen Kacheln und die hoch angebrachte Kloschüssel inklusive Haltegriffen.
»Ich warte hier vorne.« Ihr Vater schaltete das Licht am Waschbecken an und schloss leise die Tür hinter ihr.
Sobald Aurelie allein war, übermannte sie das unkontrollierte Zittern, das sie seit ihrem Aufwachen mühsam zurückgehalten hatte. Sie humpelte zum Waschbecken, stützte sich daran ab und schaute in den Spiegel. Was sie sah, ließ sie zusammenzucken.
Es lag nicht an dem großen Pflaster über ihrer linken Augenbraue. Oder dem Kratzer am Kinn. Es lag an ihren Augen. Sie sah den blanken Horror, der sich in ihnen spiegelte.
Es war alles umsonst gewesen.
Alles.
Aurelie lag wieder im Bett, die Bettdecke über ihrem verbundenen Rumpf, ein Bein zur Kühlung rausgestreckt und im Kopf immer wieder bis fünf zählend, um ruhig zu bleiben. Die Standpauke der Krankenschwester für ihr selbstbestimmtes Aufstehen hallte ihr noch nach. Ihr Vater hatte sie gerufen, während Aurelie im Bad war. Sie war alles andere als erfreut gewesen, als sie Aurelie schief über dem Toilettensitz hockend in Empfang genommen hatte.
»Papa?« Aurelie mochte nicht, wie das Wort aus ihrem Mund klang. Als wäre sie wieder klein und von einem Albtraum in der Nacht geweckt worden, dessen Monster nur ihr Vater verjagen konnte.
»Hm?« Er schien den Satz im Buch noch zu Ende zu lesen und sah dann auf.
»Worauf warten wir eigentlich?«
Er sah sie belustigt an. »Wie meinst du das?«
»Kannst du mich nicht nach Hause bringen?« Sie hielt einen Moment inne. »Du bist doch mit dem Auto hier?« Sie warf einen Blick aus dem Fenster. In der Ferne sah sie die Umrisse von Bergen. »Wenn wir jetzt losfahren, könnten wir heute Abend wieder in Hannover sein.«
»Warum willst du so dringend nach Hause?«
»Ich mag keine Krankenhäuser.«
Was sie noch weniger mochte, war, unter Beobachtung zu stehen. Sie sehnte sich nach ihrem Zimmer in der Sturmstraße, in das sich so gut wie nie jemand verirrte. Sie wollte die Rollläden runterlassen, sich in ihrem Bett verkriechen und für die nächsten fünf Jahre allein sein.
Das Licht in diesem Krankenhauszimmer war zu grell. An der hellgelben Wand hing ein Bild, das die Stimmung wohl auflockern sollte, doch das tat es nicht. Der billige Kunstdruck erinnerte Aurelie an die Bilder, die ihre Schwester Agnes mit Aquarellfarben fabriziert hatte, als sie sich selbst therapeutisches Malen verschrieben hatte.
»Ein paar Tage musst du sicherlich noch hierbleiben, auch wenn du Glück gehabt hast. Es hätte viel übler ausgehen können.«
Glück gehabt.
Wenn Aurelie Glück gehabt hätte, läge sie nicht auf einer quietschenden Matratze unter einer Bettdecke, deren größtes Qualitätsmerkmal darin bestand, dass sie leicht abzuwaschen war. Wenn sie Glück gehabt hätte, würde sie jetzt einen Pokal in Händen halten. Sie hatte die Trophäen vor dem Start in Grafenau gesehen. Sie waren in einer Vitrine hinter der Ausgabe der Startunterlagen ausgestellt gewesen. Glänzend, gewaltig, magnetisch.
»Du musst nicht bei mir bleiben, du hast bestimmt viel zu tun«, versuchte Aurelie es erneut. »Warum bist du überhaupt hier?« Es sollte vorwurfsvoll klingen, aber in ihren Ohren klang es bloß neugierig. Wie war es möglich, dass ihr Vater, den sie seit Wochen nicht gesehen hatte, die erste Person war, die es an ihre Seite in einem Krankenhaus Hunderte Kilometer von Hannover entfernt geschafft hatte? Wer hatte ihn informiert? Wieso war nicht Aurelies Mutter hier?
»Ich war vor Ort.«
»Geschäftlich?« Das würde es erklären, auch wenn ihr Vater aus geschäftlichen Gründen öfter in den Anden als in den Alpen anzutreffen war.
Ihr Vater schüttelte den Kopf und sah sie geradeaus an. »Ich war in Grafenau, um mir deinen Wettkampf anzusehen.«
Damit hatte Aurelie nicht gerechnet. Sie fühlte sich ertappt. Als würde ihr Innerstes nach außen gekehrt. So viele Fragen explodierten gleichzeitig in ihrem Kopf und taten sich zu einem misstrauischen »Warum?« zusammen.
In dem Moment klopfte es an der Tür, die im selben Atemzug aufgestoßen wurde. Das Erste, was Aurelie wahrnahm, waren die angstvoll aufgerissenen Augen ihrer Mutter. Ihre braunen Locken klebten, von einer Haarklammer achtlos zusammengehalten, am Hinterkopf. Sie trug einen grauen Cardigan über einem ausgeleierten Top, dessen Träger verrutscht waren.
Ihre Mutter blinzelte und war mit drei Schritten an ihrem Bett. »Du bist wach! Du sitzt!« Sie umarmte Aurelie fester, als man eine Person mit gebrochenen Rippen umarmen sollte. Aurelie unterdrückte einen schmerzhaften Aufschrei. Der vertraute Geruch nach Lavendel benebelte ihre Gedanken, wofür sie dankbar war.
»Margret, setz dich.« Aurelies Vater war aufgestanden, um seiner Noch-Frau den Platz auf dem Stuhl neben dem Bett freizumachen. Sie ließ sich darauf nieder, tätschelte Aurelies Hand und seufzte tief.
»Danke, dass du mich angerufen hast, Johannes«, flüsterte Aurelies Mutter, ohne den Blick von Aurelies Unterarm und dem daran befestigten Infusionszugang zu nehmen. »Ich wäre sofort losgefahren, aber – ich musste erst noch eine Sache in der Lüneburger Heide klären und –«
Aurelie fragte sich, ob das, was sich da gerade abspielte, für ihre Augen bestimmt war. Ihre Mutter schaute zu ihrem Noch-Ehemann hoch und sagte unter Tränen: »Du warst ja bei Aurelie. Ich wusste, dass du dich um sie kümmern würdest, das wusste ich einfach …« Sie sprang auf und schlug die Arme um ihn. Er erwiderte die Umarmung und strich ihr sanft über die Haare.
Aurelie hielt den Atem an. Seit Silvester hatte sie die beiden nicht mehr zusammen gesehen. Wie aus dem Nichts umgab ihre Eltern plötzlich wieder eine Vertrautheit, die sich für Aurelie so wohlig anfühlte, dass sie instinktiv das Bedürfnis verspürte, sich dagegen zu wappnen. Schließlich waren ihre Eltern im Begriff, sich scheiden zu lassen, und angeblich hatte ihr Vater bereits eine neue Freundin. Diese innige Umarmung konnte unmöglich von Dauer sein. Ihre Schwester Agnes würde ihr das niemals glauben, sollte Aurelie jemals dazu kommen, es ihr zu erzählen.
Trotzdem vergaß sie für einen Moment die Schmerzen in ihrem Körper, die Geiselhaft ihrer Gedanken, und ihr Herz, das nur noch aus Versagensangst zu pochen schien.
Ihren Körper hatten die Ärzte zusammengeflickt und stabilisiert.
Das Pfeiffersche Drüsenfieber war aufgeflogen.
Der Wettkampf gelaufen. Ihre Eltern vereint zu sehen und zu wissen, dass ihr Vater für sie nach Grafenau gekommen war – vielleicht würde es reichen, um wenigstens das schwarze Loch wieder einzudämmen, das sich seit dem Aufwachen immer weiter in ihr ausbreitete.
Kapitel 2
Aurelie hatte sich in ihrem Leben bisher nichts gebrochen, war nie operiert worden. Sie kannte die sterile Atmosphäre, die in den Gängen und Zimmern des Krankenhauses herrschte, nur von den wenigen Malen, die sie mit ihrer Mutter ihren Opa besucht hatte, kurz bevor dieser gestorben war.
Das Pflegepersonal war den ganzen Tag über in Eile. Auch die Ärztin, die ein- bis zweimal pro Tag vorbeikam, nahm sich nicht die Zeit, Aurelies Zustand einen Moment auf sich wirken zu lassen. Stattdessen überließ sie es Aurelie, ihn zu beschreiben, und bekam bei jeder Visite dieselbe Antwort: »Schon viel besser.«
Ihre Eltern hatten sich in einem Gasthof in der Innenstadt von Grafenau eingemietet und besuchten Aurelie jeden Nachmittag. Den Rest der Zeit verbrachte sie allein.
Am dritten Abend, nachdem die Krankenschwester das Tablett mit der halb aufgegessenen Scheibe Brot mit Käse abgeräumt hatte, beschloss Aurelie, dass sie lange genug tatenlos herumgelegen hatte. Mühsam richtete sie sich auf, in Gedanken bereits bei Kniebeugen oder ihren geliebten Burpees. Doch ausgeschlossen – Training war keine Option und schon rein physisch unmöglich. Eine Erkenntnis, die sich für Aurelie so schlimm anfühlte, als müsse sie lebenslang ins Gefängnis. Sie versuchte wenigstens einen Sit-up im Sitzen, obwohl die Ärztin bereits hatte durchblicken lassen, dass jegliche sportliche Betätigung in nächster Zeit tabu war, aber keine Chance. Alles, was ihr übrig blieb, war, gekrümmt auf der Bettkante zu hocken, eine Ewigkeit auf ihre kalten Füße zu starren und im Kopf Was wäre gewesen, wenn? in Dauerschleife durchzuspielen – was ihren Frust bloß ins Unermessliche steigerte.
Da es keine Rolle mehr spielte, nahm sie sich ein Herz und kramte ihr Handy aus ihrer Wettkampftasche hervor, steckte das Ladekabel in die Steckdose hinter ihrem Bett und wartete. Nach ein paar Minuten trudelten die Nachrichten ein. Mindestens zehn von Bella, die fast nur aus Ausrufezeichen, Fragezeichen und der Aufforderung, sie zurückzurufen, bestanden. Dazwischen eine Nachricht von Ulrike Müller, ihrer Kader-Trainerin. Aurelie las sie mit Herzklopfen:
Hallo Aurelie, komm wieder auf die Beine, aber bitte nicht mehr zum Kadertraining. Ich schließe dich mit sofortiger Wirkung aus dem Niedersachsen-Kader aus. Gute Besserung und pass auf dich auf. Ulrike
Aurelie rieb sich die Stirn. Das war sogar noch schneller gegangen, als sie gedacht hatte. Sie wusste, dass sie den Bogen diesmal überspannt hatte, dass sie ihren Kaderrauswurf in dem Moment besiegelt hatte, in dem sie Ulrike das Pfeiffersche Drüsenfieber verheimlicht hatte. Ihren Rauswurf per WhatsApp bestätigt zu bekommen, tat trotzdem weh.
Mit angehaltenem Atem rief sie die Homepage des Bundes-Cups auf, um sich die Ergebnisliste des Wettkampfes in Grafenau herunterzuladen. Sie zog die PDF-Datei auf ihrem Handy größer. Da. Ganz unten, der letzte Name war ihrer: Aurelie Kamm. Statt einer Platzierung stand dort ein Kürzel: DNF.
Did not finish.
Die Buchstaben verschwammen vor Aurelies Augen. Sie wollte ihr Handy schon wieder beiseitelegen, als ihr der Name über ihrem auffiel: Regina Brandt.
Aurelie runzelte die Stirn. Regina, ihre größte Konkurrentin im Niedersachsen-Kader, war als Letzte ins Ziel gekommen. Ihre Schwimmzeit war stark, aber ihre Rad- und vor allem ihre Laufzeit waren die langsamsten aller Mädchen ihrer Altersklasse. Es hätte Aurelie freuen können, dass sie nicht die Einzige war, für die der Wettkampf anders als erwartet gelaufen war. Aber das tat es nicht. Regina war ihr egal. Aurelies Traum von einer Profikarriere als Triathletin war offiziell in weite Ferne gerückt, was bedeutete, dass sie Regina auf absehbare Zeit sowieso nicht wiedersehen würde.
In der folgenden Nacht machte Aurelie kaum ein Auge zu.
Am nächsten Morgen kam die Krankenschwester gut gelaunt in ihr Zimmer, zog die Vorhänge zur Seite und fragte, wie sie sich heute fühlte.
»Schon viel besser«, antwortete Aurelie.
Eine Stunde später nippte sie an ihrem morgendlichen Tee und zwang sich eine Scheibe Brot mit Marmelade rein, als ihre Zimmertür ohne Vorwarnung geöffnet wurde. Im ersten Moment erwartete Aurelie ihre Eltern, im zweiten hoffte sie auf Bella oder sogar auf Tom, ihren gleichaltrigen Nachbarn und langjährigen Trainingskameraden, den sie kurz vor dem Wettkampf in Grafenau noch so richtig vor den Kopf gestoßen hatte. Im dritten richtete sie sich überrascht auf. Der blonde Haarschopf gehörte ihrer Schwester.
Aurelie sah Agnes die Erleichterung an, als sie ihre kleine Schwester im Trainingsanzug des Niedersachsen-Kaders – etwas anderes Bequemes hatte Aurelie nicht zum Anziehen dabei – auf der Bettkante hockend vorfand. Agnes stieß die Tür hinter sich zu und fiel Aurelie um den Hals, bevor diese ihr Tablett zur Seite stellen konnte.
Eine parfümierte Duftwolke umgab Agnes. Aurelie konnte den Geruch nicht zuordnen, aber er stach ihr in die Nase. Agnes war braun gebrannt, trug selbstgeknüpft aussehende Armbänder an den Handgelenken und hatte ihre Haare mit einem Tuch hochgebunden, von dem Aurelie hätte schwören können, dass es gebatikt war.
»Wie geht es dir?«, hauchte Agnes und setzte sich an Aurelies Fußende.
»Schon viel besser«, sagte Aurelie. Sie bemühte sich, überzeugend zu klingen.
Agnes musterte sie aufmerksam. »Nichts für ungut, Schwesterherz, aber du siehst echt mies aus.« Sie kam etwas näher und berührte kurz Aurelies Schläfe. »Du hast eingefallene Augen.«
»Gar nicht«, entgegnete Aurelie und sah weg. Gerade hatte sie sich noch gefreut, Agnes so unverhofft wiederzusehen, jetzt war sie sich nicht mehr so sicher. Sie brauchte niemanden, der ihr ihren miserablen Zustand unter die Nase rieb. »Es geht mir gut, Agnes. Wirklich. Es ist nett, dass du den ganzen Weg von Australien hergekommen bist, um dich selbst davon zu überzeugen, aber es ist etwas unnötig. So dramatisch ist das alles nicht. Du kannst beruhigt zurückfliegen und dein Work and Travel zu Ende machen.«
»Sicher nicht.« Agnes zupfte eine Haarsträhne an ihrem Turban zurecht. »Du brauchst mich.«
»Ich brauche niemanden.«
»Denkst du.« Agnes ließ sich auf den Stuhl neben Aurelies Bett fallen und verschränkte die Arme vor der Brust. »Außerdem musst du dich erholen und ich bin Medizinerin.«
»Du hast nicht mal das Physikum geschafft und dein Studium abgebrochen.«
»Don’t get lost in details, Aurelie.«
Langsam wurde Aurelie zornig. Agnes war genauso besserwisserisch wie eh und je. Hatten sie sich wirklich mehrere Monate nicht gesehen? »Kannst du eine Milz durch bloße Anwesenheit wieder zusammenflicken, oder was?«
»Ich habe es noch nie versucht, aber –« Agnes strich über ein dünnes Goldkettchen, das sie um den Hals trug. Es zeigte Sonne und Mond und war Aurelie vorher nicht aufgefallen. Plötzlich fügte sich das ganze Erscheinungsbild ihrer Schwester zusammen, von der Kette über ihre Armbänder, ihre Tasche, bis zu ihrem übertriebenen Turban und den Haaren, die ein wenig wild – man könnte auch ungekämmt sagen – wirkten.
»Bist du unter die Esoteriker gegangen?«, fragte Aurelie entsetzt.
Agnes tat, als hätte sie sie nicht gehört, aber ihre Stupsnase verzog sich missbilligend. Sie kramte in ihrer Handtasche, die zu Aurelies Erleichterung weder aus Bambus noch gebatikt noch selbst gestrickt war, sondern einfach eine schlichte schwarze Bauchtasche, und zog schließlich ein Armband heraus, das so aussah wie die, die sie selbst trug.
Sie griff nach Aurelies Handgelenk und band es ihr um. Das Armband hatte ein gestreiftes Muster in den Farben Dunkelblau, Hellgrün und Rot.
»Deine Farben«, sagte Agnes. »Die geben dir Energie.«
Aurelie entschied sich, diese Aussage zu übergehen. Was immer mit Agnes los war, musste warten. Aurelie hatte genügend eigene Sorgen.
»Habe ich das jetzt richtig verstanden, dass du hierbleibst? Also in Deutschland?« Vielleicht bestand die Hoffnung, dass Agnes wieder nach Australien verschwinden würde. Das wäre wahrscheinlich für die ganze Familie am besten, dachte Aurelie. Was sollten nur ihre Mutter, geschweige denn ihr Vater, mit einer Agnes anfangen, die an die heilende Kraft von bunten Armbändern glaubte?
»Definitiv. Der Anruf von Mama kam genau in dem Moment, in dem ich eine Meditation gemacht habe, um herauszufinden, was die nächste Mission in meinem Leben sein wird.«
»Mission?«, fragte Aurelie geschlagen. »Ich soll jetzt deine Mission sein?«
Agnes strahlte. »Genau so ist es.«
Und vor fünf Minuten hatte Aurelie noch gedacht, dass es für sie nicht mehr schlimmer kommen konnte.
Ihre Eltern fielen aus allen Wolken, als sie am Nachmittag ins Zimmer traten und Agnes neben Aurelies Bett sitzen sahen. Agnes fiel ihnen um den Hals, als wäre nie etwas gewesen; als hätte sie nicht erst vor ein paar Monaten den Kontakt zu ihrem Vater für immer abbrechen wollen. Diese Meditationen mussten echt einiges in ihr geradegerückt haben. Oder spielte sie etwas vor? Aurelie wusste nicht, was sie glauben sollte.
Am Abend gingen die drei ohne Aurelie gemeinsam essen und als sie am nächsten Nachmittag wiederkamen, strahlten ihre Mutter und Agnes über beide Ohren und ihr Vater blickte zumindest nicht kritischer drein als sonst.
Aufgereiht standen sie vor Aurelies Bett und sahen sie erwartungsvoll an. Aurelie hatte den Tag damit verbracht, Trübsal zu blasen und – nun ja – nichts tuend auf dem Bett zu liegen, weswegen sie die Euphorie, die den Rest ihrer Familie umgab, nicht nachempfinden konnte. Hatte sie etwas verpasst? Das, was auf der Hand lag? Dass sie erst einen unverantwortlichen Fahrradunfall bauen musste, damit sich ihre Familie für sie zusammenraufte?
»Also«, begann ihre Mutter und sah Aurelie freudig an, »bald wirst du entlassen.«
Wenn alles gut lief, durfte sie nach dem Wochenende heim. Aurelie konnte es kaum erwarten.
»Wir werden da sein, wenn du nach Hause kommst«, fuhr ihre Mutter fort, »alle.«
»Alle?« Aurelie sah ihre Eltern skeptisch an. Ihre Mutter und ihr Vater wechselten einen Blick.
»Alle«, wiederholte ihr Vater mit fester Stimme. »Wir fangen gemeinsam noch mal neu an.«
Aurelie sah mit hochgezogener Augenbraue zu Agnes.
»Ich bin in mich gegangen. Es ist die richtige Entscheidung.«, sagte Agnes mit einer Ernsthaftigkeit, bei der Aurelie sich fast schon fremdschämte. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie ihren Vater. Er verzog keine Miene.
»Aber das Trennungsjahr?«, fragte Aurelie.
»Das kann warten.« Ein Lächeln umspielte die Lippen ihrer Mutter. »Vielleicht streichen wir es auch ganz, wer weiß. Du kommst erst mal nach Hause und wirst wieder fit und dann sehen wir weiter.«
Das Wochenende ging zäh vorüber. Endlich kam der Tag, an dem Aurelie das Krankenhaus verlassen durfte. Die Oberärztin verabschiedete sie mit der ausdrücklichen Anweisung, eine ausgedehnte Trainingspause einzulegen und ihren Körper so lange zu schonen, bis ihre Verletzungen vollständig verheilt waren. Aurelie sparte sich die Widerworte. So, wie ihre derzeitige körperliche Verfassung war, hatte sie sowieso keine andere Wahl, sosehr sie es sich auch anders wünschte.
Die Trennung von ihrem Zimmer fiel ihr dafür nicht schwer. Nur die Tatsache, dass sie sich nun der Realität jenseits der Krankenhausmauern stellen musste, beunruhigte sie.
Ihre Eltern waren mit dem Auto ihres Vaters schon am frühen Morgen Richtung Hannover vorgefahren, um das Haus für die Rückkehr aller Familienmitglieder vorzubereiten. Agnes hatte sowieso darauf bestanden, Aurelie allein im Auto ihrer Mutter heimfahren zu dürfen, um Quality Time als Schwestern aufholen zu können.
»Hast du alles?«, fragte Agnes und deutete auf Aurelies kompakte Wettkampftasche, die neben der Tür auf dem Boden lag. Es waren Aurelies einzige Habseligkeiten. Das geliehene Mountainbike, mit dem sie gestürzt war, hatte das Kaderteam noch am Wettkampftag mit zurückgenommen. Ihren Tacho hatte jemand netterweise in die Seitentasche ihrer Wettkampftasche gesteckt, nur die Trinkflasche hatte es nicht zurück zu ihr geschafft. Das war nicht schlimm, Aurelie besaß genügend.
»Dein Gepäck ist voll leicht«, beschwerte sich Agnes. »Ziemlich unnötig, dass wir mit zwei Autos hier sind. Mein Backpack nimmt auch nicht viel Platz weg. Wir hätten uns noch Mitfahrer suchen sollen, das würde die CO2-Bilanz wenigstens etwas verbessern …«
Aurelie schulterte kommentarlos ihre Tasche und verließ das Krankenzimmer, ohne zurückzublicken. Im Grunde freute sie sich, dass Agnes zurück war, aber sie musste sich doch erst wieder an die besserwisserische Art ihrer Schwester gewöhnen.
Agnes beeilte sich, mit ihr Schritt zu halten, und redete weiter. »Mama hätten den Zug nehmen können. Dann könnten wir jetzt in einem Auto heim. Ich meine ja nur …« Sie deutete um sich. »Wir haben nur einen Planeten.«
»Sagt diejenige, die mit dem Flugzeug einmal um die halbe Welt gejettet ist«, murmelte Aurelie, während sie den Aufzug ignorierte und die Tür zum Treppengeschoss öffnete. Zwei Stockwerke humpelte sie stur mit zusammengebissenen Zähnen nach unten.
Im Erdgeschoss angekommen, durchquerten sie die Eingangshalle. Die Schiebetüren des Krankenhausausgangs öffneten sich automatisch. Aurelie trat ins Freie und atmete auf. Erst jetzt bemerkte sie, wie sehr sie frische Luft und Sonne auf dem Gesicht vermisst hatte.
Es war wärmer, aus Frühling war Frühsommer geworden. Irgendwie war es tröstlich zu sehen, dass in der Außenwelt nur eine Woche vergangen war, obwohl es sich für Aurelie so anfühlte wie zwei Jahre.
Die Fahrt von Grafenau nach Hannover verbrachten die Schwestern schweigend nebeneinander. Aurelie hatte keine Lust zu reden und Agnes musste unbedingt »diesen super motivierenden Podcast hören, ich schwöre, Aurelie, der verändert deine Sicht auf alles.«
Aurelie zog es vor zu dösen und die enthusiastische Stimme der Sprecherin auszublenden.
Als sie einige Stunden später endlich von der Autobahn abfuhren, wurde sie seltsam nervös, sodass sie die Augen nicht länger geschlossen halten konnte. Bekannte Straßen und Gebäude zogen an der Autoscheibe vorbei, gaukelten vor, dass alles wie immer war, obwohl Aurelie doch wusste, dass es das nicht mehr war.
Die Sturmstraße kam in Sicht. Agnes parkte das Auto vor dem Gartenzaun. Aurelie wollte aussteigen, doch Agnes hielt sie in altbewährter Manier zurück. Aurelie erwartete, dass Agnes zu einem erneuten Komplott gegen ihren Vater aufrief, wie sie es letztes Jahr gemacht hatte. Doch Agnes tat etwas anderes und Aurelie wusste nicht, was schlimmer war.
»Bevor wir zu Hause ankommen«, sagte Agnes, »möchte ich, dass wir kurz in den Atemraum gehen.«
»In den was?«, fragte Aurelie.
»Das ist ein Sinnbild für den gegenwärtigen Moment.«
Aurelie sah ihre Schwester ausdruckslos an. »Ich bin im gegenwärtigen Moment.«
»Are you?«, entgegnete Agnes und zog eine Augenbraue hoch.
Es machte Aurelie wahnsinnig. »Wo soll ich sonst sein?«
»Wo bist du in Gedanken?« Agnes sah sie abwartend an.
Aurelie biss sich auf die Lippe. In Gedanken war sie bei den Hanteln, die sich in ihrem Kleiderschrank befanden. Sie hatte sie mal im Discounter gekauft, aber noch nie benutzt. Sie wusste, sie sollte nicht, aber die Verlockung war da.
»Bei der Frage, welcher Gehirnwäsche man dich in Australien unterzogen hat. Bald machst du noch eine Ausbildung zur Heilpraktikerin.«
»Wäre das so schlimm?«, erwiderte Agnes eine Spur zu schnell, was Aurelie sagte, dass sie schon mal darüber nachgedacht hatte.
»Soll ich dir jetzt ernsthaft aufzählen, wie viele Vorträge du mir in den vergangenen Jahren über den fadenscheinigen Ruf von Heilpraktikern gehalten hast?«
Agnes zog beleidigt die Nase hoch. »Man kann sich ändern, Aurelie, weißt du? Man darf sich ändern. Also.« Sie nahm Aurelies Hand, schloss die Augen, lehnte sich in der feinen Ledergarnitur zurück und atmete tief durch. »Würdest du bitte mitmachen?«, sagte sie, ohne die Augen wieder zu öffnen.
Aurelie seufzte, schloss ihre dann jedoch auch.
»Der Atem ist immer für dich da, Aurelie. Immer, wenn du dich von den Problemen des Alltags überwältigt fühlst, kannst du in den Atemraum gehen und dich ganz auf deinen Atem konzentrieren.« Agnes atmeten einige Male tief ein und aus. »Sag mir, hast du jetzt, in diesem Moment, ein Problem?«
Wenn es nur eines wäre, dachte Aurelie. »Hast du diese Sätze auswendig gelernt?«, fragte sie stattdessen. »Du klingst wie eine Kassette, die einmal zu oft abgespult wurde.«
Agnes ignorierte sie und atmete ein weiteres Mal tief ein und aus. »Also, ich habe jetzt hier in diesem Moment kein Problem«, sagte sie zufrieden. »Und nur darauf kommt es an. Immer nur auf diesen Moment. Moment für Moment.«
Aurelie öffnete die Autotür, stieg aus und schlug die Tür lauter als nötig hinter sich zu.
Vielleicht hatte Agnes’ Moment ja jetzt ein Problem.
Der Tag, an dem Aurelie und Agnes nach Hause kamen, war der Tag, an dem auch ihr Vater es tat: Vier große Umzugskisten aus Pappe versperrten den Flur. Am Treppengeländer hingen Anzüge in Schutzhüllen an Kleiderhaken. Aus dem oberen Stock erklangen die gedämpften Stimmen ihrer Eltern. Aurelie nahm ihre Tasche und ging langsam die Treppe hinauf.
Sie fand ihre Eltern im alten Büro ihres Vaters, das in der letzten Zeit der Hobbyraum ihrer Mutter gewesen war. Ihr Vater räumte einige seiner Aktenordner zurück in ein Schrankregal und stieß dabei mit dem Fuß an einen der Bilderrahmen, in denen er seine besten Weinzertifikate gesammelte hatte. Sie hatten vorher an der freien Wand gehangen, doch ihre Mutter hatte sie alle abgenommen und stattdessen einige ihrer selbstgemalten Aquarelle dort aufgehangen.
»Die räume ich auch noch weg«, murmelte er und nahm einen der Bilderrahmen in die Hand.
»Vielleicht können wir uns die Wand ja in Zukunft teilen«, schlug Aurelies Mutter vor. »Eine Seite für deine Weine und eine Seite für meine Bilder.«
»Gerne«, antwortete ihr Vater.
Er hatte einen Moment gezögert, es war Aurelie nicht entgangen. Hatte ihre Mutter das Zögern auch wahrgenommen? Sie räumte selig weiter Malzubehör zur Seite, um den Unterlagen ihres Mannes Platz zu machen.
»Wir wollen später zusammen eine Doku ansehen, guckst du mit?«, fragte ihr Vater.
Aurelie hörte das Bemühen in seiner Stimme. Doch sie wurde das Gefühl nicht los, dass es eigentlich nicht sein Plan gewesen war, in die Sturmstraße zurückzukehren. Lag es an der Frau, die er kennengelernt hatte? Wollte er lieber bei ihr sein? Er wirkte genauso resigniert, wie Aurelie sich angesichts dessen, was ihr in der nächsten Zeit bevorstand, fühlte.
»Ich räume meine Tasche aus, dann komme ich runter«, sagte sie und flüchtete in ihr Zimmer.
Es war erleichternd, endlich die eigenen vier Wände zu betreten. Ihr Zimmer unterm Dachgiebel, mit einem Schreibtisch vor dem Fenster, einem schmalen Holzbett an der einen Seite und einem Kleiderschrank auf der anderen, erinnerte sie daran, in welchem Zustand sie es vor ihrem Aufbruch nach Grafenau zurückgelassen hatte. Der helle Teppich war übersät mit Klamottenbergen, sowohl sauberen als auch schmutzigen. Schubladen standen offen, weil sie in Hektik gepackt hatte. Sie hatte sogar vergessen, ihren Laptop herunterzufahren. Schnell klappte sie ihn zu, um den Fotos zu entgehen, die der Bildschirmschoner im Wechsel anzeigte.
Achtlos schmiss sie ihre Tasche in eine freie Ecke und öffnete den Kleiderschrank, um die Hanteln hervorzuholen. Enttäuscht stellte Aurelie fest, dass es gar keine Zehn-Kilo-Hanteln waren, wie sie es in Erinnerung gehabt hatte. Die Hanteln waren nur jeweils zwei Kilo schwer. Sie wog je eine in der Hand, allein das tat schon weh. Heben konnte sie sie beim besten Willen nicht, dafür war ihr Rumpf zu geschwächt.
Als ihre Mutter zum dritten Mal nach ihr rief, packte Aurelie die Hanteln ungenutzt in den Schrank zurück und gesellte sich zu ihrer Familie.
Man darf sich ändern, hatte Agnes gesagt. Aber was, wenn man es nicht wollte?
(c) Kiki Sieg 2023
Wer ist Aurelie, wenn sie nicht mehr die Beste ist? Das packende Finale der Triathlon-Trilogie von Kiki Sieg.
„Ich hatte Tränen in den Augen“ – Leserstimme
Nach dem missglückten Saisonauftakt hat Aurelie aufgegeben. Ihre Leidenschaft für Triathlon, ihre Identität – alles scheint verloren. Sie will nur eins. Den Status-quo so schnell wie möglich wiederherstellen: Sie vorne, bewundert und schneller als alle anderen.
Doch das ist leichter gesagt als getan, wenn Aurelie gegen alte Dämonen und neue Herausforderungen kämpft und die Jagd nach ersten Plätzen niemals ein Ende zu nehmen scheint.